Modernisierung-Zivilprozess

Recap 1. Kamingespräche zur zur Modernisierung des Zivilprozesses

Seit diesem Sommer ist die Debatte um die Modernisierung des Zivilprozesses wieder in vollem Gange und vielleicht breiter angelegt denn je: Eine hochrangige Arbeitsgruppe der OLG- und BGH-Präsidentinnen und Präsidenten veröffentlichte im Juli ein Thesenpapier mit Vorschlägen zur Modernisierung des Zivilprozesses, die in ihrer Kombination unseres Erachtens als Noch-Nichtteilnehmer-des-Zivilprozesses aber Digital Natives nichts weniger als eine Revolution des deutschen Zivilprozesses bedeuten würde. Zufällig folgte nach der Veröffentlichung des Thesenpapiers bald darauf die von recode.law am 3./4 September veranstaltete Digital Justice Conference 2020 (Link ausführlicher Bericht: https://www.recode.law/recap-digital-justice-conference-2020 ) und später im September der hergebrachte EDV-Gerichtstag – beide Formate mehrtätig, online und mit mehreren hundert Teilnehmern. In verschiedenen Diskussionen wurden die Vorschläge des Thesenpapiers bereits aufgegriffen, gelobt, kritisiert, debattiert. Kernvorschläge des Papiers sind die Etablierung eines bundesweiten Online-Portals als einheitlicher Einstiegspunkt für die Bürger ins Justizsystem, die für die Anwält:innen verpflichtende Nutzung eines sogenannten Basisdokuments im Anwaltsprozess (strukturierter Parteivortrag) und die Einführung eines vereinfachten Online-Verfahrens für Verbrauchersachen bis 5.000 EUR Streitwert (Link). Das vorgeschlagene Basisdokument etwa wurde auf der #djc20 gehandelt als Beispiel einer genuin digital gedachten Lösung zur Verbesserung des Prozesses in Abgrenzung zu bisher eher unglücklichen Versuchen der deutschen Justiz, analoge Prozesse ins Digitale zu übersetzen wie die bisherige Umsetzung der eAkte

Zugang zu Recht und Ressourcenschonung durch Technologie

Letztlich geht es der Arbeitsgruppe darum, wie mit neuen technischen Möglichkeiten Gerichtsverfahren nach außen bürgerfreundlicher und nach innen effizienter gestaltet werden können. Auch für recode.law ist eine Verbesserung des Zugangs zu Recht (access to justice) durch Technologie immer wieder zentrales Thema. Wir freuen uns daher über die ambitionierten Vorschläge und möchten über die #djc2020 hinaus weiter Gesprächsplattformen zur Verfügung stellen, um zur rechtspolitischen und rechtswissenschaftlichen Diskussion der Vorschläge beizutragen. Wenn eine breite Diskussion gelingt, in der überzeugende Argumente für eine technische Modernisierung des Zivilprozesses sichtbar werden, könnten viele der Vorschläge nächsten Winter in der Koalitionsvereinbarung der nächsten Regierung landen – so stellen sich es die Initiator:innen des Papiers vor und sind damit Blick auf manche StPO-Reform nicht ohne historisches Beispiel. 

Beitrag zur Diskussion durch neue recode.law-Formatreihe

Um zu dieser Diskussion beizutragen, hat recode.law Donnerstag vergangener Woche digital ein erstes zweistündiges Kamingespräch: Digital Justice ausgerichtet. In der etwa monatlich stattfindenden Formatreihe soll durch ein begrenzter Teilnehmerkreis von etwa zehn Expert:innen und zehn Studierenden oder Promovierenden regelmäßig ein konstruktiver Rahmen geboten werden für echten Diskurs. Den Aufschlag als Impulsvortragender und Hauptdiskutant machte letzte Woche der Präsident des OLG Nürnberg Dr. Thomas Dickert, Leiter der genannten Arbeitsgruppe zur Modernisierung des Zivilprozesses. Nach einem Impulsvortrag stellte er der von recode.law moderierten Diskussion mit Vertreter:innen vornehmlich aus Wissenschaft, Richterschaft und Studierenden und Promovierenden. Als Vereinigung junger, engagierter Jurist:innen vertreten wir die Auffassung, dass auch unsere noch unbefangene und idealisierte Perspektive einen wertvollen Beitrag liefern kann, nicht nur aber vor allem wenn es um digitale Denkweisen geht. 

Insgesamt ist der Versuch einer konstruktiven Diskussionsveranstaltung gelungen. Diskutiert wurde zunächst über Vorteile (Reduktion auf das Wesentliche; Einsparung mühsamer richterlicher Arbeitsschritte; Disziplinierungsfunktion für den eigentlich ohnehin geschuldeten sorgfältigen anwaltlichen Vortrag) und Nachteile (Beschneidung anwaltlicher Überzeugungskraft) des Basisdokuments und mögliche Lösungen.

Schwächen der Internetversorgung als Hindernis?

Daneben ging es um zwei grundsätzliche Fragen: Soll mit die Digitalisierung der Justiz zügig vorangetrieben werden, auch wenn vielerorts noch kein verlässliches Internet zur Verfügung steht? So plädierte entschieden eine deutliche Mehrheit der Teilnahmer:innen. Dafür wurde unter anderem auf den das analoge Angebot bloß ergänzenden Charakter des Online-Portals und des vereinfachten Online-Verfahrens verwiesen. Dieser Bemerkung wurde von anderer Stelle der Einwand entgegengesetzt, dass bei einer solchen Zweigleisigkeit die Gefahr ineffizienter Prozesse steige. In Dänemark sei die Nutzung eines Online-Portals für das gesamte Gerichtsverfahren verpflichtend

Die zweite grundsätzliche Frage: Die bisherige eAkte zugunsten des neuen Systems auf Eis legen oder zunächst eine parallele Struktur aufbauen? Zwei teilnehmende Richter:innen, die in der Gerichtsverwaltung langjährig mit der Implementierung der eAkte beschäftigt waren, plädierten entschieden zugunsten der Parallelität. Unter Anerkennung der Schwächen der eAkte wurde auf die lange Dauer der oft unbefriedigenden Vergabeverfahren zur IT-Beschaffung und -Entwicklung hingewiesen und darauf, dass sich das System ganz entscheidend erst in der Praxis verbessert habe nach dem Prinzip trial and error. Ein ausführliches Planen eines neuen ganzheitlichen Systems führe daher nicht weiter. Zu einer notwendigen Fehlerkultur und Experimentierfreudigkeit gehöre das vorübergehende Aushalten auch unbefriedigender, paralleler Strukturen. 

Genuine Potentiale digitaler Lösungen nutzen

Schließlich wurde an verschiedener Stelle auf die offenbar schwindende Akzeptanz der analogen Justiz in der Bevölkerung verwiesen. Eine Erklärung hierfür könnte der Erfolg alternativer Streitbeilegungssysteme von Plattformen und Zahlungsdienstleistern wie eBay und PayPal sein. Um weitere genuin digitale Potentiale zu nutzen (so auch ein Impuls der #djc20) wurde die stärkere Anerkennung auch visueller Kommunikation (Legal Design) in den Verfahren vorgeschlagen und so simple digitale Standard-Funktionen wie ein schnelle STRG-F Suche in einer Akte. 

Insgesamt war es ein fruchtbarer und konstruktiver Gedankenaustausch, der viele Teilnehmer:innen zu weiterem Austausch und Beschäftigung mit dem Thema in den kommenden Monaten motiviert hat. recode.law lädt alle Interessierte gerne zu weiteren Gesprächen rund um das Thema Zugang zu Recht und Modernisierung des Zivilprozesses ein. Abonnieren Sie unseren Newsletter (Link ) oder schreiben Sie uns eine Nachricht.

 

Last Updated on 4. März 2021