Die im Auftrag von Harvey vom RSGI im November 2025 durchgeführte Studie untersucht den praktischen Nutzen und den Verbreitungsgrad des generativen KI-Systems „Harvey“ in der Rechtsberatung. Grundlage sind anonymisierte, einstündige Interviews mit 40 Harvey-Kunden, die das System in ihren Arbeitsalltag integriert haben.
Die Studie versteht sich als Wert- und Wirkungsanalyse und beansprucht ausdrücklich keinen normativen Charakter. Gerade deshalb eignet sie sich als Ausgangspunkt, um die Implikationen des Einsatzes generativer KI im Rechtsbereich zu betrachten und die möglichen Auswirkungen auf den deutschen Rechtsmarkt zu analysieren.
I. Zentrale Befunde: Nutzen, Effizienz und Adoption
Im Ergebnis zeichnet die Studie ein äußerst positives Bild. Alle befragten Kanzleien geben an, dass ihre Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte enttäuscht oder verärgert wären, wenn die Harvey-Lizenzen entfallen würden. Nahezu durchgängig wird von gesteigerter Arbeitszufriedenheit berichtet. Harvey wird nicht nur als technisches Werkzeug wahrgenommen, sondern als integraler Bestandteil des juristischen Arbeitsalltags. Die befragten Kanzleien verweisen insbesondere auf eine deutliche Reduktion der „non-billable hours“ und eine hierdurch gestiegene Qualität der eigentlichen Mandatsarbeit. Im Zusammenhang damit wird hervorgehoben, dass sich die Beziehungen zu den Mandanten verbessert hätten und Arbeitsergebnisse schneller geliefert werden könnten.
Inhouse-Rechtsabteilungen betonen den zeitlichen Vorteil noch stärker. Sie berichten, dass insbesondere die interne Kommunikation mit den Fachabteilungen beschleunigt werde und sich hierdurch die verfügbare Kapazität spürbar erhöhe.
Ein besonderes Augenmerk legt die Studie auf die sogenannten „Power User“. Diese Nutzergruppe, die etwa ein Fünftel der gesamten Harvey-Nutzerschaft ausmacht, wird als wesentlicher Treiber der Adoption und der Anwendungsvielfalt solcher Systeme beschrieben. Hervorgehoben wird, dass 92 % der Lizenzen monatlich genutzt werden. Dieser Wert soll die Bedeutung des Systems im Arbeitsalltag unterstreichen. Wie häufig das Programm allerdings tatsächlich im Tagesverlauf eingesetzt wird, bleibt offen.
Viele dieser Hauptnutzer berichten, dass der zentrale Mehrwert vor allem in der Entlastung bei repetitiven oder formal geprägten Aufgaben liegt. Genannt werden insbesondere die Reduktion administrativer Tätigkeiten und die hierdurch gewonnene Zeit für materiell-rechtliche und strategische Fragestellungen.
Die Studie zeigt deutlich, dass generative KI insbesondere im US-amerikanischen Rechtsraum keine experimentelle Zusatztechnologie mehr darstellt, sondern bereits fest in die alltäglichen Arbeitsabläufe integriert ist. Parallel häufen sich Berichte, wonach Gerichte Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte auf halluzinierte Urteile in deren Begründungen hinweisen müssen. Solche Konstellationen sind längst keine Einzelfälle mehr. Auch in Deutschland gibt es erste Verfahren, in denen Gerichte auf nicht existierende Entscheidungen in anwaltlichen Schriftsätzen aufmerksam machen.
Gleichwohl entfaltet die Harvey-Studie keine repräsentative Aussagekraft für den deutschen Rechtsmarkt. Die deutsche Rechtskultur ist im Hinblick auf neue Technologien traditionell zurückhaltender und konservativer. Dennoch treten auch hier zunehmend spezialisierte KI-Werkzeuge auf den Markt. Zu nennen ist etwa „Noxtua“ des Beck-Verlags, das eine Anbindung an qualitätsgesicherte Inhalte bietet und ausdrücklich die Beachtung berufs- und datenschutzrechtlicher Vorgaben betont. Vor diesem Hintergrund erscheint die Harvey-Studie eher als Zukunftsszenario denn als Abbild eines durchschnittlichen deutschen Kanzleialltags.
II. Grenzen der Produktivitätsperspektive: Qualitätsfrage und typische KI-Risiken
Auffällig ist, wie stark der Schwerpunkt der Studie auf Effizienz- und Produktivitätssteigerungen liegt. Es dominiert ein Bild von Zeiteinsparung, Kapazitätsgewinnen, schnellerer Lieferung von Arbeitsergebnissen und gesteigerter Arbeitszufriedenheit. Die Qualität der juristischen Arbeit durch generative KI bleibt demgegenüber weitgehend implizit und wird lediglich in Form von Formeln wie „bessere Performance“ oder „höherwertige Arbeit“ angedeutet. Systematische, rechtlich informierte Qualitätskriterien werden nicht entwickelt. Risiken wie Halluzinationen, fehlerhafte Zitationen, unvollständige Erfassung von Normhierarchien oder subtile Verzerrungen in der Argumentation werden allenfalls randständig thematisiert.
Gerade in diesen Bereichen liegen jedoch die spezifischen Gefahren des Einsatzes generativer KI im juristischen Kontext. Hier kommt es in besonderem Maße auf normative Präzision und dogmatische Kohärenz an. Für Mandantinnen und Mandanten ist letztlich nicht entscheidend, wie schnell Informationen verarbeitet oder Entwürfe erstellt werden, sondern ob das Ergebnis in einer nachvollziehbaren und rechtlich stimmigen Argumentation mündet. Generative KI kann aufgrund ihrer sprachlichen Kohärenz und argumentativen Plausibilität Ergebnisse erzeugen, die ohne tragfähige rechtliche Substanz überzeugend wirken. Werden zudem nicht existente Urteile zitiert, besteht die Gefahr, dass selbst geübte Juristinnen und Juristen sich hiervon täuschen lassen.
III. Konsequenzen für Praxis und Berufsbild: Qualitätssicherung, Governance, Kompetenz
Daraus folgt die Notwendigkeit einer intensiven inhaltlichen Prüfung bei allen Arbeitsprozessen mit KI-Unterstützung. Es ist jeweils zu hinterfragen: Erfasst das System die tatsächlich relevanten Normen? Werden aktuelle Entwicklungen in Rechtsprechung und Literatur angemessen berücksichtigt? Werden zentrale dogmatische Streitstände korrekt dargestellt und gewichtet? Ein KI-gestützter Workflow darf nicht dazu führen, dass die letztverantwortliche juristische Beurteilung faktisch abgeschwächt oder auf eine bloße Plausibilitätskontrolle reduziert wird. Qualitätssicherung ist im juristischen Bereich keine nachgelagerte Zusatzleistung, sondern Teil des Kernauftrags.
Der Einsatz generativer KI berührt damit nicht nur ökonomische und technische Fragen, sondern das anwaltliche Selbstverständnis. Soll die Rechtsanwältin oder der Rechtsanwalt vor allem als Effizienzfaktor erscheinen, der mithilfe digitaler Werkzeuge möglichst viele Vorgänge in möglichst kurzer Zeit abarbeitet? Oder bleibt die Rolle primär die einer Verantwortungsprofession, deren Kern in der eigenständigen rechtlichen Analyse, Subsumtion und wertenden Anwendung des Rechts liegt? Wenn wesentliche Teile der Informationsaufbereitung und Erstargumentation an KI-Systeme ausgelagert werden, droht eine schleichende Abwertung jener Tätigkeiten, die die eigentliche juristische Wertschöpfung tragen.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die rechtliche Regulierung des KI-Einsatzes an Bedeutung. Europäische Vorgaben zum Einsatz von KI – insbesondere Anforderungen an Risikomanagement, Transparenz und menschliche Aufsicht – machen deutlich, dass der Einsatz solcher Systeme in sensiblen Bereichen nur innerhalb eines tragfähigen Governance-Rahmens zulässig ist. Für deutsche Kanzleien bedeutet dies: Die durch generative KI erzielten Effizienzgewinne müssen teilweise in zusätzliche Qualitätssicherung, Gegenrecherche und Dokumentation reinvestiert werden. Zudem bedarf es einer hinreichenden KI-Kompetenz der Berufsträger, um typische Fehlermuster zu erkennen und Ergebnisse systematisch zu überprüfen.
IV. Ausblick auf den deutschen Rechtsmarkt: Regulierung, Tools und Verteilung der Effizienzgewinne
Schließlich stellt sich die Frage, wem die Effizienzgewinne langfristig zugutekommen. Sie können in niedrigere Gebühren, neue Vergütungsmodelle oder qualitativ bessere Leistungen bei gleichbleibenden Kosten übersetzt werden; sie können aber auch primär die Margen der Rechtsdienstleister erhöhen. Wahrscheinlich wird sich ein Zwischenweg herausbilden, bei dem zunächst Infrastruktur, Governance-Strukturen und Weiterbildung finanziert werden müssen, bevor sich Geschäftsmodelle nachhaltig verändern. Klar ist jedenfalls, dass die bloße Implementierung generativer KI das Spannungsverhältnis zwischen Stundenhonorierung, Effizienzversprechen und Mandanteninteressen nicht auflöst.
Die RSGI-Studie ist damit in zweifacher Hinsicht bedeutsam: Sie dokumentiert die Normalisierung generativer KI in großen, international agierenden Rechtsorganisationen und markiert zugleich die Grenze einer rein produktivitätsorientierten Betrachtung. Für deutsche Kanzleien und Rechtsabteilungen besteht die Aufgabe darin, generative KI so zu nutzen, dass sie die juristische Qualität stärkt, anstatt sie zu unterminieren. Effizienz darf nicht zum Selbstzweck werden. Rechtsberatung lebt von juristischer Expertise und der verantworteten Entscheidung des Menschen. Generative KI kann diese Arbeit unterstützen, sie aber nicht ersetzen. Die zentrale Herausforderung der kommenden Jahre wird darin bestehen, eine tragfähige Balance zwischen technischer Innovation und rechtlicher Integrität zu finden und sicherzustellen, dass die menschliche Entscheidungskraft auch im digitalisierten Rechtsmarkt der maßgebliche Referenzpunkt bleibt.
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