Die Digitalisierung hat längst Einzug in das Jurastudium gehalten, und künstliche Intelligenz verspricht, diesen Wandel auf ein völlig neues Niveau zu heben. Doch welche konkreten Vorteile bietet KI den Studierenden und Dozierenden? Welche innovativen Einsatzmöglichkeiten gibt es bereits, und wie könnten diese die juristische Ausbildung revolutionieren?
Diesen Fragen gehen Olesja Kaltenecker und Jeremias Forssman im Gespräch mit Dr. Carl-Wendelin Neubert nach. Als Mitgründer und Chefredakteur von Jurafuchs hat er eine klare Vision, wie KI das juristische Lernen und Lehren verändern kann.
Was siehst Du für Vorteile an der Prüfungssimulation durch KI und wie weit kann das gehen?
Prüfungssimulation mithilfe von künstlicher Intelligenz ist für uns ein sehr wichtiges Thema. Als Ausgangspunkt ist es wichtig festzuhalten, dass Prüfungssimulation – ganz losgelöst von Digitalisierung und KI – für die effektive Vorbereitung auf jede Prüfung entscheidend ist, weil die Lernenden in keiner Situation näher an die eigene Prüfung herankommen als in einer Simulation.
Aber ich würde gern noch grundsätzlicher ansetzen: Die Effektivität des Lernerfolgs steigert sich, je aktiver die Lernenden ihren Lernprozess gestalten. Das hat die Lernforschung herausgefunden. Und aktives Lernen – sog. kognitive Aktivierung – führt nachweislich zu viel größeren Lernerfolgen als passives Lernen. Das ist auch total eingängig, das haben alle schon mal erlebt, die eine Lerngruppe hatten: Wenn ihr z.B. in einer Lerngruppe lernt und in der Lerngruppe einander Rechtsfragen erklären müsst und darüber ins Rechtsgespräch treten und diskutiert, dann seid ihr viel präsenter, viel stärker gefordert und viel tiefer mit den Themen befasst und in der Folge vertraut, als wenn ihr euch das Thema einfach „nur“ im Lehrbuch erarbeitet.
Insofern sind erst einmal alle Formen von aktivem Lernen – sei es Lerngruppen, Prüfungssimulation, Moot Courts u.v.m. – für den Lernerfolg im Jurastudium enorm zielführend und um ein Vielfaches effektiver als herkömmliche passive Lernmittel wie Lehrbücher, Skripten, Frontalunterricht oder Vorlesungen. Hinzu kommt, dass das aktive Lernen in aller Regel deutlich mehr Spaß macht und zudem andere Skills – Interaktion in Echtzeit, Formulieren, Argumentieren, freies Sprechen – fördert, die für die juristische Praxis eine enorme Rolle spielen, auch wenn sie in der juristischen Ausbildung überwiegend ein trauriges Schattendasein führen.
Was hat das jetzt mit Digitalisierung und künstlicher Intelligenz zu tun? Digitalisierte Lernmittel können das aktive Lernen sehr gut umsetzen und die Prozesse der kognitiven Aktivierung auslösen. Ein zentrales Element sind dabei sog. automatisierte Feedback-Systeme, bei denen die Lernenden nicht nur aktiv irgendwelche Fragen beantworten müssen, sondern immer unmittelbar nach der Beantwortung einer Frage auch eine Rückmeldung des Systems erhalten, ob ihre Antwort richtig oder falsch war und warum. Denn dies ermöglicht den Lernenden, umgehend zu verinnerlichen, wie eine Information zu verstehen ist und ob sie sie richtig verstanden und in der konkreten Konstellation richtig eingeordnet und angewendet haben. Gerade für Jura lässt sich das nicht hoch genug einschätzen: Denn Jura zielt auf die Fähigkeit, das Recht anwenden zu können auf immer neue unterschiedliche Sachverhalte.
Künstliche Intelligenz kann dieses aktive Lernen mit digitalisierten Lernmitteln auf ein nochmal höheres Niveau heben. Denn künstliche Intelligenz ermöglicht die Entwicklung persönlicher digitalisierter Tutoren, die letztlich so fungieren wie ein Privatlehrer oder Privatrepetitor. Während digitalisierte Lernmittel erst einmal gut darin sind, individuelle Antworten auf vorgefertigte Fragen einzuordnen, kann künstliche Intelligenz den Lernprozess stärker individualisieren.
Ein gutes Beispiel ist unser Definitionen-Trainer bei Jurafuchs. Dort werden unsere Nutzerinnen und Nutzer von unserer KI-Assistentin Foxxy nach einer Definition gefragt. Die User müssen dann die Definition in ein Freitextfeld eingeben. Foxxy überprüft, ob die individuelle Eingabe mit der hinterlegten Lehrbuchdefinition übereinstimmt, und meldet den Lernenden zurück, ob ihre individuelle Eingabe richtig oder falsch war, und warum. In wenigen Sekunden erklärt Dir Foxxy z.B. dass es für den Begriff des Angebots im BGB nicht nur darauf ankommt, dass es sich – entsprechend Deiner Eingabe im Freitextfeld – um eine empfangsbedürftige Willenserklärung handelt, sondern dass – und das hattest Du in Deiner Eingabe vergessen – das Zustandekommen des Vertrags nur noch vom Einverständnis der anderen Partei abhängt. Foxxy generiert so auf jede einzelne Eingabe immer neue, 100% individualisierte Rückmeldungen, die den Lernprozess an den persönlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen der einzelnen Lernenden ausrichten. Und das ist dann der erste Schritt zu einer veritablen Lern-Revolution.
Wo siehst Du die Chancen von KI im Jurastudium? Kann dies vollumfänglich implementiert werden?
Der Einsatz von künstlicher Intelligenz ist kein Selbstzweck, genauso wie Digitalisierung kein Selbstzweck ist. Künstliche Intelligenz kann aber jede Menge Prozesse und Handlungsweisen vereinfachen oder sogar ersetzen, die zuvor ganz selbstverständlicher Bestandteil zahlreicher Lebensbereiche waren. Und insofern macht der Einsatz von KI auch vor dem Jurastudium nicht halt, soweit sich Felder identifizieren lassen, in denen KI sich sinnvoll zum Nutzen der Studierenden und zum Nutzen des juristischen Lernerfolgs einsetzen lässt. Das muss der Zielpunkt sein!
Und wenn man diesen Zielpunkt – den Nutzen von KI für die Studierenden und für den juristischen Lernerfolg – ernst nimmt, dann kann man überlegen, an welchen Stellen und in welcher Weise künstliche Intelligenz zum Einsatz kommen kann, um dieses Ziel zu erreichen. Ausgehend hiervon kann man z.B. zu dem Ergebnis kommen, dass sich KI einsetzen lässt, um eine individuelle Simulation der mündlichen Examensprüfung zu bauen, die wir gerade angerissen haben und an der wir bei Jurafuchs arbeiten. Aber auch einfachere KI-gestützte Prozesse lassen sich umsetzen, die den Lernerfolg nachhaltig beeinflussen. Die erste KI-gestützte Anwendung, die wir bei Jurafuchs gebaut und eingesetzt haben, war ja unser oben dargestellter – noch vergleichsweise einfacher – Definitionen-Trainer mit unserem KI-Tutor Foxxy AI. Dieses fantastische Tool ersetzt mittlerweile für tausende Studis das Lernen von juristischen Definitionen mit klassischen Karteikarten.
Wie können Student:innen oder insbesondere die Dozent:innen davon profitieren?
Studierende und auch Dozent:innen können natürlich noch auf ganz andere Weise und vollkommen losgelöst von Jurafuchs von künstlicher Intelligenz profitieren – auch wenn es im Bereich des juristischen Lernens bislang noch keinen anderen Anbieter als Jurafuchs gibt, der effektive KI-unterstützte Lerntools implementiert hat und einsetzt. So lassen sich Claude 3 Opus oder ChatGPT mittlerweile auch dazu nutzen, um Texte zusammenzufassen und daraus Fragen zu konzipieren. Juristisch sind die large language models noch nicht immer verlässlich, und ich vermute, dass das noch eine ganze Weile so bleiben wird, sodass professionelle, redaktionell erstellte juristische Lerninhalte – wie etwa in Lehrbüchern oder auf Jurafuchs – inhaltlich hochwertiger bleiben und von den Studierenden mit dem erforderlichen Maß an Vertrauen fürs Lernen verwendet werden können. Aber die den large language models inhärente Leistungsfähigkeit, innerhalb kürzester Zeit Informationen zu verarbeiten und in anderer Form wiederzugeben, können sich alle Studierenden und Dozent:innen auch für die juristische Ausbildung nutzbar machen, z.B. um erste Entwürfe für Lerninhalte oder Vorlesungsunterlagen zu generieren.
Es kommt aber noch etwas anderes hinzu: Künstliche Intelligenz wird unsere Lern-, Lebens- und Arbeitswelt aller Voraussicht nach viel stärker verändern, als wir es uns aktuell schon vorstellen können. Deshalb ist es sinnvoll, sich damit auseinanderzusetzen, und das umfasst zunächst einmal, die verfügbaren KI-Tools einfach auszuprobieren und sich damit vertraut zu machen.
Daran schließt sich ein weiterer Aspekt an, der für die Aufgabe der Juristinnen und Juristen von morgen in meinen Augen essenziell werden wird: Wenn KI erst einmal in der Lage ist, Rechtsfragen eigenständig und einigermaßen zutreffend zu beantworten, dann werden sich die Aufgaben von uns Juristinnen und Juristen verändern. Wenn z.B. in ein paar Jahren ein gerichtliches Urteil nicht mehr vom Richter geschrieben werden muss, sondern von der KI vorformuliert wird, dann wird es die Aufgabe des Richters sein und bleiben, akribisch zu prüfen, ob die künstliche Intelligenz alles richtig gemacht hat oder nicht. Die Ausgestaltung der Aufgaben in juristischen Berufen wird sich verändern, und es werden manche Berufe vielleicht auch komplett verschwinden, aber an der Überprüfung der juristischen „Arbeit“ von KI werden wir nicht vorbeikommen, und es wird ein neues Skillset sein, zu prüfen und zu gewährleisten, dass in Windeseile von KI vorbereitete Urteile oder Schriftsätze rechtlich wirklich das halten, was sie auf den ersten Blick versprechen. Das erfordert von den Juristinnen und Juristen von morgen nicht weniger juristischen Sachverstand, sondern mehr! Und es erfordert die noch stärker entwickelte Fähigkeit, kritisch mit juristischen Texten umzugehen und rechtlich fehlerhafte Ausführungen entdecken zu können.
Wie kann Jurafuchs im Studium genutzt werden und siehst Du KI als nächsten Schritt für den juristischen Lernerfolg?
Jurafuchs ist konzipiert als effektive digitale Lernunterstützung – und zwar für alle Studienabschnitte, vom ersten Tag durch das gesamte Jurastudium bis durch die Examensklausuren und zum Ende der mündlichen Examensprüfung. Auch nach dem Studium wird Jurafuchs eingesetzt, nämlich im Referendariat und in der Vorbereitung auf das 2 Staatsexamen.
Wir haben bei Jurafuchs eine eigene juristische Falldidaktik entwickelt, bei der alle Lerninhalte für Jurastudium und Staatsexamen systematisch und bis ins Detail an kleinen Fällen vermittelt werden. Dadurch erlernen unsere User anwendungsbezogenes Wissen und Systemverständnis. Wir setzen dabei die Erkenntnisse der Lernforschung um, die ich oben in Teilen skizziert habe, und nutzen Gamification-Elemente, um die Lernmotivation zu steigern und unsere User bei der Entwicklung von langfristigen Lerngewohnheiten zu unterstützen. So schaffen wir eine Lernumgebung, die effektives und nachhaltiges Lernen ermöglicht. Das ist der Markenkern von Jurafuchs und er gilt ganz unabhängig davon, ob man Strafrecht AT oder Bereicherungsrecht oder Verwaltungsprozessrecht oder aktuelle examensrelevante Rechtsprechung lernen möchte.
Was aber besonders ist: Es gibt nicht die eine Art, richtig Jura zu lernen – und entsprechend gibt es auch nicht die eine Art, Jurafuchs zu nutzen. Das ist der Clou: Für alle, die Jura lernen wollen (oder müssen), bietet Jurafuchs das passende Lernangebot. Ob Du jetzt stundenlang mit Jurafuchs lernen willst oder nur fünfzehn Minuten am Tag. Ob Du Dir ein ganzes Rechtsgebiet von der Pike auf mit Jurafuchs erarbeiten willst oder ob Du nur eine Rechtsfrage nachschlagen möchtest. Ob Du aktuelle examensrelevante Rechtsprechung im öffentlichen Recht lernen willst oder typische Klausurprobleme im Sachenrecht. Für alle unterschiedlichen Lernszenarien funktioniert Jurafuchs gleichermaßen.
Der Lernprozess wird vervollständigt durch spezielle Lerntools wie einen Spaced-Repetition-Wiederholungstrainer, der effektive Wiederholung ermöglicht, oder einen (nagelneuen) Lernplan-Builder, mit dem sich unsere Nutzerinnen und Nutzer einen individuellen Lernplan für ihre jeweilige Prüfung basteln können. Dazu können unsere Lernenden in Jurafuchs eigene Karteikarten erstellen, ihre bereits auf anderen Plattformen geschriebenen Karteikarten importieren und aus den redaktionellen Jurafuchs-Lerninhalten neue Karteikarten generieren – ganz nach dem individuellen Lernbedarf. Im Jurafuchs-Forum können Lernende alle Lerninhalte kommentieren und Fragen stellen und erhalten dazu von unserem Moderatoren-Team – einer Gruppe herausragender Prädikatsjuristen – fachmännische Antworten. Und Anfang Dezember 2024 haben wir in unsere Lernplattform 100 Examensklausuren aus der juristischen Ausbildungszeitschrift JA (Juristische Arbeitsblätter) eingebunden, im Rahmen einer Kooperation mit dem Vahlen Verlag.
Künstliche Intelligenz spielt bei uns – wie oben beschrieben – schon jetzt eine wichtige Rolle, wird aber immer wichtiger. Neben dem Definitionen-Trainer und einem Trainer für die Berechnung der Blutalkoholkonzentration in strafrechtlichen Fällen haben wir zwei KI-Tools für das Referendariat im Einsatz. Wir entwickeln aktuell mehrere KI-basierte Lerntools und werden schon bald ganz neuartige Lernfeatures veröffentlichen, die mithilfe von künstlicher Intelligenz Lernerfahrungen ermöglichen, die ihresgleichen suchen. Wir freuen uns schon sehr darauf!
Fazit:
Das Gespräch mit Dr. Neubert macht deutlich, wie viel Potenzial KI für das Jurastudium hat. Sie kann den Lernprozess aktiver, individueller und effizienter gestalten – sei es durch Prüfungssimulationen, die direktes Feedback geben, oder durch smarte Tools, die Wissen passgenau vermitteln.
Doch es gibt auch Herausforderungen, denn KI ist kein Ersatz für juristischen Sachverstand, sondern ein Werkzeug, das kritisch und bewusst genutzt werden muss. Es bleibt die Aufgabe der Studierenden, Inhalte zu hinterfragen und selbstständig zu denken – Fähigkeiten, die durch zu starke Abhängigkeit von KI verkümmern könnten.
Das zeigt: KI ist keine Konkurrenz für angehende Jurist:innen, sondern ein Werkzeug, das den Weg zum Erfolg erleichtern kann – wenn man es richtig einsetzt. Am Ende bleibt sie ein Hilfsmittel – der Schlüssel zum Erfolg liegt weiterhin in der Fähigkeit, kritisch zu denken und eigenständig juristische Probleme zu lösen.
Last Updated on 19. Dezember 2024