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Recap Digital Justice Conference 2020

Vom 3. und 4. September 2020 fand die rein virtuell stattfindenden Digital Justice Conference 2020, ausgerichtet von der Studierendeninitiative recode.law, statt. Thematisiert und diskutiert wurde die Notwendigkeit der Digitalisierung und Modernisierung auch der Gerichte und der ZPO in Deutschland.

Das Bemühen um einen besseren Zugang zum Recht („access to justice“) ist Inspiration für viele Mitglieder der jungen, bundesweit vernetzten Legal Tech Studierendeninitiative recode.law. Dies kombiniert mit dem plötzlichen Corona-Lockdown im Frühjahr und vielen abgesagten Präsenz-Konferenzen führte ein zuletzt achtköpfiges Team rund um Ramona Weber zur Idee der Digital Justice Conference 2020. Am Ende einer herausfordernden Organisation stand eine knapp zweitätige Online-Konferenz mit substanziellen Diskussionen, Vorträgen wie dem von Dr. Thomas Dickert und einem guten Level an Interaktion durch Umfragen und die Chat-Funktion. 460 Zuschauer:innen meldeten sich schließlich an und damit mehr als das Team sich erhofft hatte.

Neben Zahlen und Redner:innen muss sich jede Konferenz aber vor allem an ihrem inhaltlichen Niveau messen lassen: Gab es konstruktive Debatten? Wiederkehrende Forderungen, die sich als Konsens herausbilden? Vorschläge und neue Impulse für den Diskurs? Wir finden: eindeutig Ja. Aus den Diskussionen, Beiträgen und Gesprächen der Conference leiten wir als aufmerksame Zuschauer, Organisatorinnen und Moderatoren fünf konkrete Impulse ab, die die #djc2020 dem Diskurs mitgibt.

Im Folgenden werden die wesentlichen Erkenntnisse der einzelnen Vorträge und Panels dargestellt.

Erster Conference-Tag:
Eröffnungsrede Dr. Thomas Dickert

Die Digital Justice Conference 2020 eröffnete Herr Dr. Thomas Dickert, Präsident des OLG Nürnbergs und Vorsitzender der Arbeitsgruppe “Modernisierung des Zivilprozesses”. Im Rahmen seiner Bestandsaufnahme der deutschen Justiz kritisierte er die langwierigen digitalen Konzeptentwicklungen und den zugleich geringen Budgetrahmen. Ebenso verhindere der Föderalismus ein einheitliches IT-Systeme und damit einhergehend eine breite Akzeptanz zur Digitalisierung der Gerichte. Neben dem fehlenden Mindset zur digitalen Ausgestaltung der Gerichte stellen jedoch die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Prozessordnungen eine Hürde dar. Diese, so konstatiert er, brauchen eine Modernisierung im Hinblick auf das digitale Zeitalter.

Den Blick in die Zukunft der Justiz richtet er auf den Einsatz Künstlicher Intelligenz. Diese könne im Rahmen von Dokumentenanalyse und der Analyse von Big Data zur Arbeitsentlastung und Effizienzsteigerung führen. Eine weitere Chance für Justiz und vor allem die Bürger:innen sieht er in der Etablierung eines Online-Verfahrens für Verfahren mit geringem Streitwert befürwortet er. Gleichzeitig stehen vielen Automatisierungsprozessen auch einige rechtliche Grenzen gegenüber, welche gewahrt werden müssen.

Zuletzt stellt er einige Forderungen, wie dass Justiz, Gesetzgeber und die Rechtswissenschaft zusammen über Phänomene, wie die Digitalisierung der Lehre und der Justiz, die Künstliche Intelligenz und die rechtlichen Grenzen diskutieren müssen. Nur so könne Fortschritt erreicht werden. Schlussendlich versichert er, dass Richter und Gesetz nicht ersetzt werden.

Panel: Chancen und Hürden einer digitalen Justiz

Das erste Panel der Conference „Chancen und Hürden einer digitalen Justiz“ nahm eine umfassende Bestandsaufnahme zum gegenwärtigen Stand der Digitalisierung der Justiz vor und thematisierte den aktuellen Handlungsbedarf. Dazu äußerten und diskutierten Prof. Dr. Reinhard Gaier, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, Thomas Heilmann, Mitglied des deutschen Bundestags für die CDU/CSU Fraktion und Autor des Politikbestellers „Neustaat“, Benedikt Windau, Richter am Landgericht Oldenburg sowie Martin Hackl, Chief Digital Officer für das österreichische Justizministerium.

Ausgangspunkt war dabei Krisenfestigkeit der Justiz vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie, die zum einen schonungslos bestehenden Defizite hinsichtlich der Digitalisierung in der Justiz offen gelegt hat, gleichzeitig aber auch als Chance und wichtiger Impuls bewertet wurde. Handlungsbedarf wurde dabei vor allem bezüglich der technischen Ausstattung der Gerichte sowie bei der Schaffung einer einheitlichen IT-Infrastruktur gesehen. Deutlich wurde innerhalb der Diskussion insbesondere die Notwendigkeit, sich im Rahmen von Digitalisierungsfragen auch umfassend mit der technischen Ebene auseinanderzusetzen. So sei es wichtig, IT-Experten und Sachverständige mit einzubeziehen, um die richtige Wahl bei Hard- und Software zu treffen.

Als weiteres zentrales Handlungsfeld der Digitalisierung der Justiz wurde darüber hinaus die Notwendigkeit von „digitaleren“ Gerichtsverfahren diskutiert. Zwar waren sich die Speaker einig, dass die Rechtsprechung letztinstanzlich der richterlichen Entscheidungsgewalt obliegen müsse, doch wurde auch die Forderung nach mehr Mut zu disruptiven Modernisierungsansätzen gefordert. Dabei müsse man die Chancen der Digitalisierung dazu nutzen, sowohl die Verfahrensordnung (ZPO) zu überdenken, als auch den Zugang zu und die Effizienz von Gerichtsverfahren zu verbessern. Dabei ginge es nicht allein darum, analoge Verfahren eins zu eins ins Digitale zu übertragen, sondern Recht durch die Digitalisierung ganz neu abzubilden. Um die Effizienz der Justiz zu steigern, sollte ferner die Möglichkeit von Online-Vorverfahren bei geringen Streitwerten geschaffen werden. Auch dem zukünftigen Einsatz von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz standen die Speaker im Grunde positiv gegenüber, solange Transparenz gewährleistet, letztinstanzliche Kontrolle weiterhin den Richtern zugestanden und die rechtlichen Grenzen gewahrt werden. Innerhalb der Politik und Justiz müsse dabei jedoch eine grundsätzlich größere Bereitschaft zu „Experimenten“ und neuen Prozessen existieren: Innovative Technologien sollten schneller „testweise“ ausprobiert und innerhalb der Justiz genutzt werden.

Als zentrales Anliegen wurde im Rahmen des Panels eine umfassende und ganzheitliche Digitalisierungsstrategie mit einer klaren, aber agilen Zielvorstellung gefasst, was im Zuge der Digitalisierung innerhalb der Justiz erreicht werden soll. Diese Initiative müsse dabei vom Bund ausgehen, um einheitliche Vorstellungen in föderalen Strukturen umzusetzen und dabei sowohl Politik, Justiz als auch IT-Experten an einen Tisch zu bringen.

Hinsichtlich der Entwicklungen innerhalb der nächsten 10 Jahren müsse aber vor allem eine digitalisierte ZPO, eine digitale Verfahrensführung sowie eine einheitliche technische Grundausstattung vorangetrieben und umgesetzt werden.

Impulsvortrag: KI und Konfliktlösung Prof. Dr. Steffek

Prof. Steffek stellte zunächst in seinem Vortrag einen Wettbewerb von Studierenden in Cambridge vor. Hier programmierten Studenten eine KI (“Case Crunch”, www.case-crunch.com) und schickten diese in den Wettbewerb mit über 100 Wirtschaftsanwälten. Sowohl die KI als auch die Anwälte sollten Vorhersagen erstellen über den Ausgang von realen Fällen im Bereich des Versicherungsrechts. Die KI war hier deutlich besser. Er skizzierte die Anwendungsgebiete von KI für die Konfliktlösung, nämlich bei der Informationsbeschaffung und -aufbereitung, der Analyse und auch bei der eigentlichen Entscheidung des Konflikts. Hierbei ging er insbesondere darauf ein, dass beim Einsatz von KI zur Konfliktlösung Verzerrungen eintreten können, welchen Wert die Transparenz der entscheidungserheblichen Faktoren hat und welche ethischen Aspekte dabei berücksichtigt werden müssen. Nach Auffassung von Prof. Steffek kann KI den Zugang zum Recht verbessern, indem der Zugang einfacher und kostengünstiger gestaltet werden kann. Er glaubt zudem, dass KI nicht erst bei streitigen Entscheidungen eingesetzt werden sollte, sondern KI verstärkt im Bereich des Streit vermeidenden Konfliktmanagements ihren Platz hat.

Interview: Thomas Heilmann, MdB

Herr Heilmann ging in seinem Impulsvortrag unter anderem auf die Frage ein, ob Deutschland einen “Neustaat“ braucht. Diese Frage thematisiert er zusammen mit anderen Abgeordneten und Experten im kürzlich veröffentlichten Politik-Bestseller “Neustaat”. In 103 Vorschlägen zeigen sie einen Weg zu einer schnelleren Digitalisierung Deutschlands auf.

Im Interview legte er einen Schwerpunkt auf die Wichtigkeit eines soliden Grundwissen im Bereich der IT. Nur dann können Prozesse neu gedacht, die Justiz und Verwaltung modernisiert und digitalisiert werden. Um diesen Ansatz verfolgen zu können, fordert er eine einheitliche Institution, z.B. in der Gestalt eines Ministeriums für Digitalisierung.

Interview: Dr. Richard Happ (Luther)

Dr. Richard Happ, Experte für internationale Schiedsverfahren, berichtete über den Stand der Digitalisierung in Schiedsverfahren, der, im Vergleich zu staatlichen Zivilverfahren, schon deutlich fortgeschrittener ist. Er erklärte die Vorzüge einer ganzheitlichen digitalen Plattform für jegliche Kommunikation im gerichtlichen Verfahren. Als funktionierendes Beispiel führte er die Plattform der Stockholm Chamber of Commerce (SCC) an. Gründe für die frühzeitige und tief gehende Digitalisierung einiger Prozesse der Schiedsgerichtsbarkeit seien u.a. die hohe Bereitschaft zum Fortschritt und zur Standardisierung von “best practices” gewesen. Zugleich sei die Digitalisierung aber kein Allheilsbringer. Aus eigener Erfahrung zählte er Verfahrensaspekte auf, die analog stets bessere Ergebnisse erzielten als digital. Dr. Happ resümierte, dass man einige Digitalisierungserfahrungen der Schiedsgerichtsbarkeit auf staatliche Gerichtsverfahren übertragen könne und den Mut zum Einsatz digitaler Tools in gerichtlichen Verfahren aufbringen müsse.

Zweiter Conference-Tag
Panel: Tomorrow’s Online Courts

Der zweite Tag der Konferenz wurde durch das Panel “Tomorrow’s Online Courts” eingeleitet.

Prof. Dr. Giesla Rühl

Den Beginn machte Frau Professorin Giesela Rühl. In ihrer Forschung widmete sie sich zuletzt den Themen Smart contracts sowie dem Einsatz von Algorithmen und künstlicher Intelligenz in der gerichtlichen Streitbeilegung. Letzteres wurde auch in ihrem Impulsvortrag deutlich. Dieser wies darauf hin, dass die Zivilprozessordnung bereits heute einen nicht unerheblichen Digitalisierungsgrad aufweist. Der Status quo zeigt also: Eine Untätigkeit kann dem Bundesgesetzgeber nicht vorgeworfen werden. Gleichwohl fehle es in einigen Bereichen an einer sinnvollen Umsetzung der gesetzgeberischen Bemühungen. Zu nennen ist hier z.B. die mangelnde Verfügbarkeit von Videotechnik an den Gerichten.

Ein weiteres im Vortrag genanntes Defizit ist der Umstand, dass die gesetzgeberischen Anpassungen sich nicht an den rechtssuchenden Bürger richten. “Insbesondere gibt es bis heute keinen einfachen internetbasierten Zugang zu Gericht, den der rechtssuchende Bürger ohne Einschaltung eines Anwalts einfach so beschreiten könnte.”

Zuletzt nannte Frau Prof. Dr. Rühl das Defizit, und dies hörte man auch von anderen Speakern im Rahmen der Konferenz, dass der Fokus bisher auf der digitalen Transformation analoger Prozesse liegt. Damit werde das Potential der Digitalisierung nicht ausgeschöpft. Mögliche kurzfristige Lösungsansätze sind für Frau Prof. Dr. Rühl die Einführung eines (optionalen) digitalen Zugangsportals und eines (optionalen) digitalen Gerichtsverfahrens. Mittel- und langfristig schlägt die Speakerin eine Steigerung des digitalen Zugangs zum Recht mittels Künstlicher Intelligenz und dem Einsatz von Algorithmen vor. Bevor derartige Systeme eingesetzt werden können, sind allerdings die technischen Herausforderungen (z.B. das sog. Black box – Problem der Künstlichen Intelligenz, das die Arbeitsweise des Systems für den Anwender und in der Regel auch für den Entwickler des Algorithmus nicht nachvollziehbar erscheinen lässt) als auch die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Herausforderungen (z.B. die Beeinträchtigung richterliche Unabhängigkeit aus Art. 97 GG) zu bewältigen.

Dr. Cord Bürgmann

Im Anschluss folgte der Vortrag von dem Rechtsanwalt und Politikberater Dr. Cord Brügmann. Dieser konzentrierte sich auf sieben Trends, “…die den Rahmen für künftige Entwicklungen ausmachen und den Rechtsmarkt in den nächsten 10-15 Jahren beeinflussen werden.”

Der Trend Nr. 1 war mit “Traditionelle Streitlösung wird unattraktiver” betitelt. Herr Dr. Brügmann zeigte einen Rückgang der Eingangszahlen an den Zivilgerichten. Als Gründe nannte er unter Anderem die hohen Rechtsverfolgungskosten. Weiterhin hob er hervor, dass Streitsuchende in bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten häufig nicht 100 % ihres Anspruchs durchsetzen wollen. Dies gelte jedenfalls dann, wenn die Rechtsverfolgung einen längeren Zeitraum in Anspruch nimmt. Sie geben sich vielmehr mit 70 oder 80 % des Anspruchumfangs zufrieden, wenn sie diesen schnell und unkompliziert bekommen. Hervorzuheben sind außerdem die Trends Nr. 3 und Nr. 7. Mit dem dritten Trend hob der Redner hervor, dass die Justiz nicht in demselben Tempo modernisiert wird, wie der Rechtsberatungsmarkt. Zu befürchten ist daher eine immer größere Divergenz in den Modernisierungsgeschwindigkeiten der (privaten) außergerichtlichen Rechtsdienstleistung im Verhältnis zur traditionellen Streitbeilegung. Der siebte und letzte Trend befasste sich mit Predictive Analytics und Human in the Loop.

Im Anschluss an die Trends folgten drei Thesen:

  1. Die Digitalisierung bietet eine Chance für kohärente, innovationsfreundliche Rahmenbedingungen für die gesamte Rechtspflege
    Im Rahmen dieser These machte Dr. Brügmann deutlich, dass die Rechtspolitik nicht die Justiz allein als Hauptakteur für alle Rechtsprobleme sehen sollte. Ein geweiteter Blick, der auch die Rechtspflege außerhalb der Justiz einbezieht und ggf. zu einer Entlastung der Justiz beitragen kann, wäre hier wünschenswert.
  2. Empirie und Kundenperspektive: Rechtspolitik und Akteure in der Rechtspflege brauchen Unmet-Legal-Needs-Studien
    Die zweite These fordert einen Zugriff der Rechtspolitik und Akteure in der Rechtspflege auf empirische Daten, die die Bedürfnisse des Rechtssuchenden Publikums betreffen.
  3. Wenn es um Justiz, Zugang zum Recht und Rechtsstaat geht, sollten wir anstreben, in Europa und der Welt die Nummer 1 zu sein.

Oskar de Felice

Last but not least konnte der Flightright Head of Legal Strategy Oskar de Felice seinen Standpunkt zu den “Tomorrow’s Online Courts” darlegen. Er machte zunächst deutlich, dass sich die Justiz im Rahmen der Digitalisierung viel zu sehr auf die Anwaltschaft konzentriere und dabei den Rechtssuchenden nicht gebührend berücksichtigt. Herr de Felice schlägt zur Verbesserung eine digitale Plattform an den Gerichten vor. Diese würde das Sammeln von strukturierten Daten ermöglichen, die nach einer Auswertungen Erkenntnisse für eine Anpassung der digitalen Prozesse geben könnten. Gleichzeitig könnten so Präsenz- oder auch Videotermine verhindert werden, da die zuständige Richterin über die Plattform z.B. darauf hinweisen könnte, dass ein bestimmter Vortrag noch fehlt.

Auch sieht Herr de Felice, ähnlich wie Dr. Brügmann, perspektivisch ein ausgeglichenes Nebeneinander von Justiz und außergerichtlicher Streitbeilegung. Hervorzuheben ist hierbei, dass nach seinem Lösungsansatz  die Justiz den Rechtsdienstleistern die gesammelten Daten zur Verfügung stellt. So kann stets der für den Rechtssuchenden optimale Weg gegangen werden. Mit der Bereitstellung der Daten stellt Herr de Felice gleichzeitig einen Regulationsmechanismus vor. Sollte sich ein Nutzer der Daten rechtswidrig verhalten, kann ihm ein weiterer Zugang zu den Daten verwehrt werden und so eine Sanktionswirkung entstehen.

Zusammenfassung Panel

In der auf die Impulsvorträge folgenden Paneldiskussion wurde deutlich, dass in der Zukunft eine privatrechtliche Konfliktlösung aus einem Nebeneinander staatlicher und privater Konfliktlösungsmechanismen bestehen sollten. Dabei sollte die heutige Justiz zunächst darauf achten, dass sie wieder wettbewerbsfähig wird.

Auch das in den Vorträgen immer wieder angesprochene Thema der Künstlichen Intelligenz in der Justiz wurde besprochen. Die Redner*innen waren sich einig, dass diese Technologie irgendwann eingesetzt werden sollte. Der Einsatz aber unter der Bedingung steht, dass sie einwandfrei funktioniert und insbesondere keine diskriminierenden Ungleichbehandlungen hervorruft.
In Bezug auf die für die Künstliche Intelligenz benötigten Daten waren sich die Redner*innen einig, dass eine Veröffentlichungspflicht für die Gerichte bestehen sollte. Herr Dr. Brügmann wies allerdings darauf hin, dass dies ein Umdenken in der Justiz erfordert. Man müsse nur einmal nach Frankreich schauen, wo die Analyse richterlichen Verhaltens mittlerweile mit einer Gefängnisstrafe sanktioniert werden kann.

Zum Ende der Diskussion wies Herr de Felice darauf hin, dass eine Beeinträchtigung der Entscheidungsfindung durch Algorithmen bereits heute besteht. Die unterschiedlichen kostenpflichtigen Zugänge bei den großen juristischen Datenbanken bewirken bereits heute einen ungleichen Zugang zu Informationen, der unter Umständen in gleichgelagerten Sachverhalten zu unterschiedlichen Urteilen führen kann.

Interview: Stephan Thomae, MdB

Im Gespräch mit Herrn Stephan Thomae, MdB ging es um das Thema: Corona und die Justiz: Wie krisenfest sind die Gerichte? Festzuhalten bleibt, dass es – anders als zum Teil berichtet – nicht zu einem Stillstand der Justiz und des Rechtsstaats gekommen ist. Aber obwohl sich gezeigt hat, dass der Staat auch in einer Krisensituation wie dem Corona-Lockdown leistungsfähig ist, wurden die bestehenden Schwächen umso schmerzhafter offen gelegt, sodass es z.B. zu Verzögerungen von Prozessen und sogar Haftentlassungen gekommen ist. Stephan Thomae und die FDP-Fraktion fordern vor diesem Hintergrund umso dringlicher einerseits einen Digitalpakt für die Justiz, um ihre technische Ausstattung zu verbessern. Andererseits fordern sie auch gesetzgeberische Änderungen, kurzfristig etwa das Führen von Video-Verhandlungen – anders als aktuell in § 128a ZPO – in das Benehmen der Parteien zu stellen und die Möglichkeit Verhandlungen mit Einverständnis der Parteien aufzuzeichnen.

Impulsvortrag: Gerichtssaal der Zukunft von Prof. Dr. Thomas Hoeren

Herr Prof. Dr. Hoeren referierte über die Digitalisierung der Gerichte im Hinblick auf die architektonischen und rechtlichen Anforderungen. Je nach Gerichtsart müssen unterschiedliche Anforderungen an die Digitalisierung gestellt werden. Im Strafprozess sind u.a. die Forderung der Autorität des Staates vor Ort, die Komponenten der Gerichtsöffentlichkeit und der direkten, persönlichen Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten und dem Richter erheblich. Diese den Prozess prägenden Elemente ließen sich in einem virtuellen Verfahren kaum abbilden, so Prof. Dr. Hoeren. Ähnliches gelte im Familienprozess, wo die physiologisch vorzunehmenden Einschätzungen, wie z.B. bei der Beurteilung zum Schutz des Kindes, nur ausreichend in persona getätigt werden könnten. Im Zivilprozess hingegen bestünden mehr Möglichkeiten virtuelle Verhandlungen zu implementieren.

Panel: Online Dispute Resolution

Das Panel zum Thema „Online Dispute Resolution“ (kurz ODR) läutete das Finale der Konferenz ein. Unter ODR werden verschiedene Methoden und Systeme zur Streitbeilegung im Internet gefasst. Prominentester Vertreter ist der eBay-/ und PayPal-Käuferschutz. Dieser wurde im Laufe der Konferenz mehrfach als Beispiel genannt für schnellen, einfachen, kostenlosen Zugang zu einer Konfliktlösung. Prof. Gaier nahm auch kritisch Bezug und deutete an, dass sich hier ein Parallelsystem entwickele, dem der Staat mit eigenen neuen oder verbesserten Angeboten entgegentreten müsse. Tatsächlich lösten die genannten Plattformen bereits 2014 rund 60 Millionen Konflikte im Jahr mit damals steigender Tendenz. Die Eingangszahlen der Amtsgerichte hingegen sind seit Jahren rückläufig, worauf auch Cord Brügmann am Freitagmorgen noch einmal hinwies (-40% zwischen 2004 und 2019)

Damit war den Kernfragen des letzten Panels durch die anderen Diskussionen bereits der Boden bereitet: Was soll man von der steigenden Bedeutung der privaten ODR halten? Welche Rolle sollten die privaten Systeme spielen im Vergleich zu staatlichen Konfliktlösungsmechanismen? Brauchen die Plattformen mehr Regeln in dieser Hinsicht? Kann der Staat etwas von eBay und PayPal lernen?

Diese Fragen diskutierte ein international und höchstkarätig besetztes Panel auf Englisch, das erst durch die Virtualität der Conference ermöglicht wurde. Colin Rule (San Jose, Kalifornien, USA) ist Pionier auf dem Gebiet des ODR und hat Anfang der 2000er Jahre das erfolgreiche ODR-System von eBay und später von PayPal aufgebaut. Martin Fries ist Privatdozent an der LMU München mit Forschungsschwerpunkt unter anderem im Recht der Digitalisierung. Shannon Salter (Vancouver, British Columbia, Canada) ist Chair des Civil Resolution Tribunal British Columbia (Kanada), einem der ersten erfolgreichen staatlichen Online-Gerichte.

Colin Rule machte den Anfang und lieferte spannende Einblicke in die Funktionsweise des eBay-Käuferschutz. 90% der Fälle würden ohne menschliche Interaktion gelöst. Eine Software strukturiere automatisiert die Kommunikation, fordere entsprechende Nachweise an und bereite so alles für den Ausnahmefall vor, dass doch ein:e Mitarbeiter:in von eBay den Fall entscheiden müsse. Die durchschnittliche Verfahrensdauer betrage 18 Tage.

Er ist der Auffassung, dass Private so viele Konflikte wie möglich verhindern und bei Auftreten lösen sollten. Es reiche, wenn nur im Ausnahmefall der Staat als „last resort“ zur Verfügung stünde. Die Systeme seien phänomenal erfolgreich, auch gemessen am Maßstab der Nutzerzufriedenheit: Die Konfliktlösungen seien nicht verbindlich, gleichwohl gingen 99% der Fälle danach nicht mehr zu Gericht. Er wies auch auf den Bedarf für diese Systeme hin, um den Zugang zum Recht zu verbessern. Dies gelte vor allem in anderen Rechtsstandorten als Deutschland. Deutschland habe nämlich eines der am besten funktionierenden Rechtssysteme weltweit, dies müsse man immer im Hinterkopf behalten. An der Arbeit von Shannon Salter wollte er im Übrigen kein bisschen Kritik geübt wissen: Sie setze den Gold Standard für ein öffentliches Justizsystem, es sei bewundernswert. Auf eine spätere Nachfrage wies er auf das Risiko schwarzer Schafe unter den Privaten hin und die Standards für ODR-Systeme (wie Unabhängigkeit, Fairness u.Ä.), an denen er in einem Branchenverband mitgearbeitet habe.

Martin Fries plädierte dafür, dass sich der Staat diejenigen zum Vorbild nehmen müsse, die Erfolg im Bereich der Konfliktlösung hätten. Das seien ohne Frage eBay und PayPal. Er wies daraufhin, dass die EU sich bereits ihm Rahmen der ODR-Verordnung von den Unternehmen habe beraten lassen. Die geschaffene zentrale Schlichtungs-Vermittlungsplattform verzeichne bisher aber nur wenige Zehntausend Eingänge jedes Jahr europaweit und sei damit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. In der Frage „state vs. private“ äußerte er seine Überzeugung: „There are enough conflicts for everyone.“ Er betonte die Notwendigkeit der Nutzerzentriertheit: Die Bedürfnisse der Rechtssuchenden müssten im Verfahren berücksichtigt werden. Das sei noch nicht hinreichend der Fall. Das Verfahrensrecht müsse dementsprechend angepasst werden. Es sei mindestens genauso wichtig wie das materielle Recht.

Shannon Salter gab schließlich einen allseits erwarteten Kurzüberblick über die Funktionsweise und Entstehungsgeschichte des Civil Resolution Tribunal in British Columbia, Canada. Es handele sich quasi um ein Online-Gericht, wobei die Richter:innen mit einem verbindlichen streitigen Urteil erst auf der letzten Stufe eines vierstufigen Prozesses stünden. Zu Beginn fänden die Rechtssuchenden ein einfach durchsuchbare Datenbank zu Rechtsproblemen; es folge eine strukturierte Verhandlung; auf dritter Stufe eine für beide Seiten verpflichtende Mediation – hier finde „all the heavy work“ statt; erst wenn Konflikte auch auf dieser Stufe nicht gelöst werden, entscheide ein:e Richter:in den Fall. Das allermeiste finde digital (Videokonferenzen) statt. Der CRT sammle ständig Feedback von allen Beteiligten, um sich weiter zu verbessern. Die Zufriedenheit der Rechtssuchenden sei hoch. Die Rechtspolitik gebe dem CRT immer mehr Jurisdiktionen.

Der fundamentale Unterschied dieses Verfahrensdesigns gegenüber dem herkömmlichen public justice system sei, dass es nutzerzentriert ausgestaltet ist, also auf die Bedürfnisse der Rechtssuchenden ausgerichtet. Sie betonte also einen ähnlichen Punkt wie Martin Fries. Sie stellte klar, dass ein Online-Verfahren nicht die einzige Möglichkeit eines nutzerzentrierten Verfahrens sei, aber es sei die beste Möglichkeit, die uns bisher eingefallen ist. Es gehe nicht um blinde Digitalisierung. Sondern die Verbesserung des Zugangs zum Recht. Das schaffe man durch Nutzerzentrierung.

In der Frage „state vs. private“ hob sie den aus ihrer Sicht wichtigsten Unterschied hervor: Die staatlichen Systeme müssten für alle offen sein, die privaten hingegen nur für die, für die es sich lohne. Dabei denke sie an die Schwächsten der Gesellschaft, Minderheiten, Personen mit Behinderungen und andere. Um den Zugang zum Recht für diese Menschen zu erhöhen, teile sie etwa 90% ihrer Arbeitszeit ein. Sie gab auch konkrete Beispiele, wie eine solche Ausgestaltung aussieht. Darunter fällt etwa das Commitment, alle Verfahrensschritte inklusive Urteilsbegründung in leichter Sprache zu kommunizieren.

Moderator, ODR-Promovend und recode.law Mitglied Julian Albrecht resümierte, dass es mehr Einigkeit gegeben hätte als erwartet – „there are enough conflicts for everyone“. Zentrales Kriterium sei die Nutzerzentriertheit. Der Staat könne eine Menge von eBay und PayPal lernen. Ein Katalog an Regeln läge mit den vom Branchenverband herausgearbeiteten Standards zumindest in unverbindlicher Form vor.

Ausblick

Bei recode.law lernen, diskutieren und leben wir ein digitales Mindset. Wir wollen helfen, dies in die juristische Ausbildung, den Rechtsberatungsmarkt und die staatliche Justiz tragen, damit zugunsten eines größeren Zugangs zum Recht die Chancen der Digitalisierung auch hier wahrgenommen werden. In anderen Branchen ist das längst in größerem Ausmaß geschehen. Die Digital Justice Conference 2020 war für uns ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Wir hoffen, dass viele von euch und Ihnen diese Sichtweise teilen. Wir bleiben am Thema Digital Justice dran und werden weiteren Content dazu produzieren. Nach der Conference ist vor der Conference.

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Last Updated on 20. Februar 2021