Am 21. Januar 2021 hostete recode.law das zweites digitales Kamingespräch im Bereich Digital Justice zu der Frage „Predictive Analytics in der Justiz – ein Instrument unserer zukünftigen Rechtsprechung“ mit Dr. Veronica Hoch, Dr. Felix Steffek, Prof. Martin Ebers und Prof. Stefan Huber, Prof. Martin Missong und Eckard Schindler. Mit diesem nicht-öffentlichen Diskussionsformat wollen wir an die Debatte rund um die Digitalisierung der Justiz weiter anknüpfen und im Nachgang unsere Digital Justice Conference im September 2020 einen echten Beitrag zum Diskurs liefern. Ziel jedes Kamingespräches ist es, Expert:innen aller Fachrichtungen für Themen im Bereich der Digital Justice zu aktivieren und eine Plattform für Austausch und Vernetzung zu schaffen. Insgesamt wirken alle Gespräch auf die inhaltliche Ausgestaltung und personellen Besetzung einer zweite Auflage der Digital Justice Conference 2021 hin.
Predictive Analytics – Was ist das?
Predictive Analytics in der Justiz – worum geht es hier? Mit dem Begriff Predictive Analytics wird die Fähigkeit beschrieben, durch computerisierte Auswertung von bestehender Rechtsprechung und allgemeinen Informationen den Ausgang gerichtlicher Verfahren vorauszusagen. Um juristische Texte und die schiere Masse an verfügbaren und notwendigen Informationen für dieses Ziel automatisiert auszuwerten, ist Software nötig, die als künstliche Intelligenz bezeichnet wird. Praktische Anwendungen solcher Produkte, welche die Erfolgsaussichten einer Klage in Wahrscheinlichkeiten ausdrücken können, stehen zuhauf im Raum. Die Überlegung des potentiellen Klägers, ob eine Klage sich überhaupt lohnt, die Risikobewertung eines Prozessfinanzierers für eine von ihm zu finanzierenden Klage oder die justizinterne Unterstützung richterlicher Arbeit sind nur einige Beispiele. Sicher ist, dass die Verfügbarkeit solcher Software die Justiz, die juristische und anwaltliche Arbeit und den gesamten Rechtsmarkt gewaltig umkrempeln wird. Daher stehen viele Fragen zu künstlicher Intelligenz und Predictive Analytics im Raum, die es zu erforschen gilt. Was sind die Vorteile und Gefahren solcher Systeme für unser Rechtssystem? Welche ethischen Bedenken gibt es zu der Übertragung von juristischen Entscheidungsprozessen von menschlichen Richtern auf Software-Programme? Wie wird sich die Arbeit aller Akteure im Rechtssystem durch die Verfügbarkeit solcher Systeme verändern? Was sind die rechtlichen Voraussetzungen und Hürden für die Einführung solcher Systeme?
Die Diskussion
Zur Diskussion aller dieser Fragen hat recode.law sechs Expert:innen an einen Tisch gebracht: Die Juristin Dr. Veronica Hoch von der Universität Bochum, die in einem Impulsvortrag ihre Forschung zu Predictive Analytics vorstellte, Dr. Felix Steffek, Prof. Martin Ebers und Prof. Stefan Huber, welche allesamt ihre Forschung aus verschieden Perspektiven auf künstliche Intelligenz im juristischen Prozess gerichtet haben. Daneben nahm auch der Mathematiker und Statistiker Prof. Martin Missong, der zu Statistik und künstlicher Intelligenz vor Gericht forscht sowie der IBM-Manager Eckard Schindler, der in der DACH-Region den Vertrieb für digitale Public Sector Lösungen und den Geschäftsbereich Justiz leite, an der Gesprächsrunde teil. So waren diverse Facetten, die juristische, technische, unternehmerische und die philosophischen Aspekte zum Thema künstliche Intelligenz und Justiz vertreten.
Predictive Analytics und seine Anwendungsgebiete
Ein grundlegendes Thema der Diskussion war die Erklärung der konkreten Bedeutung von Predictive Analytics und die Beschreibung der praktischen Einsatzmöglichkeiten solcher Programme. Predictive Analytics könne zum Einen als kompletter Ersatz richterlicher Arbeit eingesetzt werden, also die menschliche Entscheidung über eine juristische Frage durch die Anwendung von Software ersetzen. Ebenfalls könnte Predictive Analytics von privaten Akteuren zur Vorhersage oder der Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten des Ausgangs gerichtlicher Verfahren genutzt werden. Schließlich ist eine Anwendung von Predictive Analytics auch als Arbeitshilfe für die Justiz und den Richter, also als unterstützendes Instrument für eine menschliche Entscheidung über einen juristische Frage möglich. Differenziert wurden bloße „regelaufgreifende Systeme“, die entscheiden oder vorhersagen, ob eine bestimmte Regel entweder angewendet wird oder nicht. Hier wären unter Umständen gar keine künstlich intelligenten Systeme notwendig, um automatisiert solche Entscheidungen zu treffen oder vorherzusagen. Der deutlich weitere Anwendungsbereich wäre allerdings die Entscheidung über die Frage, wie eine Regel anzuwenden ist, die einen Entscheidungsspielraum anbietet. Hierzu muss ein System, das diese Entscheidungen treffen oder vorhersagen soll, nicht nur eine Regel aufgreifen, verstehen und in einem Ja-Nein-Schema anwenden, sondern frühere Situationen analysieren und mit der aktuellen Situation abgleichen, um selbst zu lernen, wie man innerhalb des vorgegebenen Entscheidungsspielraums richtig (also gesetzmäßig) entscheidet. Diese Anwendung, welche alte Informationen auswertet, um zu lernen, wie man eine „eigene“ Entscheidung für eine aktuelle Situation trifft, wäre künstliche Intelligenz im engeren Sinne.
Nutzen und Gewinn der Anwendung von Predictive Analytics Programmen
Vorteile der Anwendung von Predictive Analytics wurden unter den Teilnehmer:innen auf verschiedenen Ebenen gesehen. Gerade die unterstützende Anwendung solcher Programme könne die Arbeit des Justizsystems deutlich effizienter gestalten, zu einer erheblichen Arbeitsentlastung beitragen und es den Richter:innen ermöglichen, sich auf ihre Kernaufgabe, die eigentliche Entscheidung von Rechtsfragen, zu konzentrieren. Die umfassende Auswertung bisheriger Rechtsprechung könnte ferner strukturelle Defizite der Rechtsprechung und des Rechtssystems aufdecken. Predictive Analytics kann weiterhin Rechtsschutzsuchenden die Möglichkeit geben, die Wahrscheinlichkeit eines Sieges vor Gericht und somit die Sinnhaftigkeit eines Klageerhebung zu ermitteln, um unnötige Gerichtskosten zu vermeiden. Als weiterer möglicher Anwendungsbereich wurde die Entscheidung über Prozesskostenhilfe genannt, da es sich hier um ein klares Ja-Nein Schema handelt. Insgesamt kann bestehende Technologie bereits zur Unterstützung juristischer Arbeit bei Dokumentenauswertung und Dokumentenverarbeitung angewendet werden. Ein Beispiel ist die bereits für die Justiz verfügbare IBM-Software JustizMEMORIA. Daneben eigne sich die Anwendung von Predictive Analytics auch bei der qualitativen Folgenanalyse von Urteilen durch die Justiz, beim Einsatz in der richterlichen Vorprüfung eines Sachverhaltes und bei der Ermittlung dessen wesentlicher Rechtsfragen. So könne zum Beispiel der Abgleich einer entworfenen richterlichen Entscheidung mit bisheriger Rechtsprechung automatisiert werden.
Stand der Forschung und Entwicklung von Predictive Analytics Programmen
Zwei bestehende Ansätze zur Konzeption eines Predictive Analytics Programms zur Vorhersage von Gerichtsentscheidungen wurden diskutiert. 2016 hatte ein Team um den Natural Language Processing Experten Nikolaos Aletras ein Predictive Analytics Programm für Entscheidungen des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte präsentiert. Zur gleichen Zeit hatte ein Team um Daniel M. Katz, Jura-Professor am Illinois Institute of Technology, ein Vorhersageprogramm für Entscheidungen des US-amerikanischen Supreme Courts vorgestellt. Die beiden unterschiedlichen Ansätze sagten die Entscheidungen der Gerichte mit einer Wahrscheinlichkeit von 70-80 % voraus. Aufgrund der jeweiligen Besonderheiten der ausgewählten Gerichtssysteme können diese Ansätze jedoch nicht vollständig auf die deutsche Gerichtsbarkeit übertragen werden. Die Diskutanten waren sich einig, dass für die deutsche Gerichtsbarkeit ein eigener Ansatz entwickelt werden muss, der den Charakteristika des deutschen Rechtssystems Rechnung trägt. Insbesondere der Unterschied zwischen dem anglo-amerikanischen Common Law und dem kontinentalen Code Law mache dies notwendig. Kodifiziertes Recht, fehlende formale Präzedenzwirkung von Urteilen und unterschiedlich ausgeprägt faktische Präzedenzwirkung von Urteilen in bestimmten Rechtsgebieten würden ganz andere Anforderungen an die Struktur eines Predictive Analytics Programms stellen. Auch stellte die Runde übereinstimmend fest, dass nach Stand der Forschung und aktuell existierender Software, Algorithmen Wertungs- und Abwägungsentscheidungen nur sehr eingeschränkt abbilden können. Ein Einsatz von Predictive Analytics für alle möglichen juristischen Entscheidungen sei heutzutage und auch in absehbarer Zukunft noch nicht möglich. Dennoch sei damit zu rechnen, dass es in den nächsten Jahren auf dem Gebiet der ‘Predictive Analytics’ zu großen Fortschritten kommen werde, da das Interesse und die Nachfrage auf dem Rechtsmarkt die Entwicklung entsprechend vorantreibt.
Mehr Anreize für Forschung und Entwicklung von Predictiv Analytics
Eine zentrale Erkenntnis der Runde bezog sich u.a. auf die Notwendigkeit, in Deutschland innovative Forschung an Programmen zur Vorhersage von juristischen Entscheidungen, die auf künstlicher Intelligenz basieren, stärker voranzutreiben und zu fördern. Die deutsche Szene läge im Bereich der Predictive Analytics um Jahre hinter der Konkurrenz aus den USA, Großbritannien, Frankreich und China zurück. Wenn in Deutschland nicht die notwendigen Strukturen geschaffen und Datensätze bereitgestellt würden, um effektive Forschung an Predictive Analytics Programmen zu ermöglichen, würde die deutsche Gründerszene in diesem Bereich gegenüber ausländischer Konkurrenz entscheidend geschwächt. Dies erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass ausländische Unternehmen mit hochentwickelten Predictive Analytics Programmen den deutschen Markt in Zukunft dominieren werden. Zwar koste die Anpassung von ausländischer Predictive Analytics Software an das deutsche Rechtssystem Zeit, welche deutsche Unternehmen zur Entwicklung konkurrenzfähiger Predictive Analytics Programme nutzen können. Jedoch stelle der Mehraufwand der Anpassung eines bereits funktionierenden Programms an ein neues Rechtssystem nur einen Bruchteil des Aufwands dar, überhaupt ein funktionierendes Programm zu entwickeln.
In diesem Zusammenhang identifizierten die Diskutant:innen als größtes Hindernis für Forschung und Weiterentwicklung von Predictive Analytics Programmen die fehlende Verfügbarkeit geeigneter Datensätze und Datenmengen. Hier fand die Diskussion einen thematischen Schwerpunkt. Selbst lernende Predictive Analytics Programme müssen mit Daten “gefüttert” werden, um dem Algorithmus die Möglichkeit zu geben, wiederholende Zusammenhänge und Muster wiederzuerkennen und daraus die richtigen Schlüsse abzuleiten. In Deutschland fehlen geeignete Datensätze aus dem Justizbereich, mittels derer ein Predictive Analytics Programm für die deutsche Gerichtsbarkeit oder einen bestimmten Rechtsbereich lernen kann, eine juristische Entscheidung zu treffen oder vorherzusagen. Dies sei vor allem darauf zurückzuführen, dass in Deutschland ein Großteil der erstinstanzlicher Rechtsprechung nicht digitalisiert, geschweige denn öffentlich zugänglich ist. Gerade erstinstanzliche Urteile eignen sich jedoch im Vergleich zur Rechtsprechung höherer Gerichte für die Entwicklung von Predictive Analytics Programmen, weil erstinstanzliche Urteile sich im Gegensatz zu den Rechtsmittelinstanzen im Schwerpunkt mit Sachverhaltsfragen befassen. Hier sei die Politik gefragt, die geeigneten Strukturen und Initiativen voranzutreiben, um so eine stärkere Digitalisierung der Rechtsprechung zu ermöglich. Auch müsse ein öffentlicher Zugang geschaffen werden, da bisherige Monopolstellungen von Datenbanken wie Beck-online und Juris die Forschung und Innovationskraft behinderte. Bei diesen Bestrebungen könnten zukünftig Universitäten und Hochschulen eine tragende Rolle spielen. Allerdings sollte man in der gegenwärtigen Lage auch berücksichtigen, dass sich bereits kleinere Datensätze gut für Forschung und Anwendungsbeispiele eignen.
Ethische Bedenken, Gefahren und Sorgen vor Predictive Analytics Programmen
Ethische Bedenken in Bezug auf die Anwendung von Predictive Analytics im Rechtssystem richteten sich hauptsächlich auf die technischen Aspekte entsprechender Software und den daraus resultierenden Folgen beim Einsatz bei richterlicher Entscheidungsfindung. Als problematisch wurde in diesem Kontext vor allem das Phänomen des Algorithmus als “Black Box” bewertet, da sich dessen Entscheidungsfindung für Richter:innen im Nachgang nicht mehr nachvollziehen lässt. Auch fehle es an der statistischen und informatischen Kompetenz vieler die Software anwendenden Jurist:innen. Verfassungsrechtliche Bedenken bezogen sich ferner auf die Verletzung des Rechtes auf rechtliches Gehör oder von Persönlichkeitsrechten. All diese Faktoren führen zu einer generellen Aversion innerhalb der Justiz aber auch allgemeinen Bevölkerung gegenüber der Anwendung von KI basierten Systemen. Diese müsse man durch Information und Aufklärung gezielt abbauen, da die technologische Entwicklung und der Einsatz entsprechender Programme kaum mehr aufzuhalten sei. Insgesamt sei es daher wichtig, den Entscheidungsprozess von Predictive Analytics im Rechtssystem möglichst transparent zu machen. Ein Einsatz könnte dabei die Schaffung einer “explainable AI” sein, deren Funktionsweise für den Anwender offen gelegt wird.
III. Fazit
Insgesamt sehen alle Teilnehmer:innen viel Potential in der Entwicklung von Predictive Analytics Programmen und sind sich sicher, dass diese die Lebenswirklichkeit in unserem Rechtssystem in Zukunft immer stärker prägen werden. Weiterer Austausch zu dem Thema auf akademischer, unternehmerischer und politischer Ebene ist daher notwendig. Für recode.law ist das eine Bestätigung der bereits geleisteten Arbeit und gleichzeitig Arbeitsauftrag für zukünftige Projekte. Insbesondere gilt es, die Forschung und Wissenschaft auch durch die Schaffung der notwendigen Strukturen nachhaltig zu unterstützen.
Last Updated on 4. März 2021